Im Lächeln die Welt

Ella Morgenroth blinzelte gegen die Nachmittagssonne an diesem sehr warmen Junitag. Sie stand vor dem großzügigen Beet mit den alten Buschrosen, die begleitet wurden von Salbei, Purpurglöckchen, Bartblumen und Lavendel. Nun hielt sie eine flache Hand gegen die Stirn, wie den Schirm einer Mütze. Das Zusammenkneifen der Augen strengte sie an.
Diese seltsame, unbekannte Pflanze, die da mittendrin wuchs in diesem berauschend schönen Beet, das Ellas Mutter über so viele Jahre hinweg gestaltet und gepflegt hatte. Diese Pflanze gehörte da nicht hin, ja, dennoch. Etwas daran faszinierte Ella auf eine außergewöhnliche Weise. Das graugrüne, ausufernde Blattwerk ähnelte in seiner Form dem einer wilden Malve, flach lag es auf der Erde auf. Aus der Mitte heraus ragte der Stängel bereits über einen Meter in die Höhe. Dick, fleischig und behaart war er, wie ein kerzengerades Männerbein. Die einzige Knospe saß obenauf. Groß und kugelrund war sie und würde sich schon bald öffnen.
Ein hässliches Gewächs war das, dort mitten im schönsten Beet des Gartens. Ellas Vater hätte es längst entfernt, ginge er überhaupt noch nach draußen, um nach dem Rechten zu sehen.
Nun. Ella Morgenroth wollte wissen, wie es blühte und würde es stehen lassen.
Das hatte sie auch den Bewohnerinnen und Bewohnern der nahegelegenen Senioreneinrichtung versprochen, von denen täglich einige am Zaun hinter diesem Beet entlangspazierten, freundlich grüßten, ein bisschen mit Ella oder miteinander schwatzten, über das Wetter, den Garten, die fremdartige Pflanze.

„Was ist das?“ Es war Jettes sanfte Stimme, die Ella aus ihren Gedanken holte und kurz erschrecken ließ. Lächelnd sahen die beiden Frauen einander an.
„Lassen wir uns überraschen“, antwortete Ella.
„Ja.“ Jette nickte. „Ihr Vater schläft jetzt. Ich mache eine Pause, drüben am Teich.“
„Bitte machen Sie so viele Pausen, wie Sie möchten“, sagte Ella. „Die Hauptsache ist, dass Sie bleiben. Ohne Sie sind wir verloren.“
Jette wirkte verlegen. „Ich bin gerne hier“, sagte sie.
Jette war die erste Betreuerin, die Ellas Vater aushielt. Sie war der vielleicht letzte Versuch der Vermittlungsagentur, eine geeignete Person für „diesen Fall“, wie sie es nannten, zu finden. Da war eine sehr besondere Verbindung zwischen ihr und Harald Morgenroth, die Ella nicht verstand.
Harald lächelte nie. Jette lächelte immer. Was auch passierte, ihr Lächeln verging nicht. Die junge Frau strahlte von innen heraus, alles um sie herum schien wärmer, heller, leichter zu sein, wenn sie da war. Sie schien glücklich zu sein in ihrem Leben, besaß ein so freundliches, geduldiges Wesen. Vielleicht war es die Musik, die sie machte, in einer kleinen Band. Oder die Meditation, deretwegen sie nun barfuß zum Gartenteich ging, in ihren bequemen, farbenfrohen Sachen. Gab es jemanden in ihrem Leben, der sie bedingungslos liebte, ihr diese innere Stärke gab? Ella wusste es nicht. Sie fragte Jette selten nach privaten Angelegenheiten.
Jeden Morgen um halb sieben Uhr war Jette da. Immer pünktlich, immer guter Stimmung erschien sie eine Stunde, bevor Ella ins Büro fuhr.

Auch an diesem Morgen war das so gewesen, nach den anstrengenden Ereignissen am Abend zuvor.

Ella hatte Weißbrot gebacken und eine portugiesische Tomatensuppe gekocht, mit Zwiebeln und einem pochierten Ei darin, für ihren Vater und sich selbst. Er kannte das Gericht von früheren Reisen. Aber, vielleicht, erinnerte er sich nicht mehr.
„Was setzt du mir da vor?“, fuhr er seine Tochter an. „Als hätte ich keine Zähne mehr im Maul!“ Mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger ergriff er seinen gefüllten Teller wie eine Frisbeescheibe.
Schreien wollte Ella, ein lautes „Nein!“ herausbrüllen, etwas tun, um es zu verhindern. Ihre Stimme versagte. Der Teller flog gegen die nächstliegende Wand. Gegen das Bild, das ihre Mutter gemalt hatte, kurz vor ihrem Tod, der sich am übernächsten Tag zum zweiten Mal jährte. Es war das letzte Werk, das sie fertiggestellt hatte. Drei Seerosen in zartem Apricot, kräftige Schilfrohrkolben im Hintergrund. Zwei Kohlweißlinge schienen um die Blüten zu tanzen.
Jedes Detail, jeder Pinselstrich, jedes noch so winzige Pünktchen war Ella vertraut. Sie hatte es geliebt, dieses Bild. Es war zerstört, jetzt und für immer.
Das „Nein!“, endlich brach es aus Ella heraus, zitternd, wütend, voller Tränen und Schmerz.
„Hör auf zu flennen!“, fuhr er sie an. „Was gibt es morgen? Pürierten Blumenkohl?“
Ella wusste, dass er Angst hatte. Auch den Grund kannte sie. Er wollte nicht so werden „wie die Opas aus dem Seniorenknast nebenan. Wie so einer mit nichts als Fliegenscheiße im Hirn.“ Ja, so sprach er über diese Menschen. Respektlos. Voller Panik. Und Wut.
Das Davonfliegen der Erinnerungen. Das schrittweise Fortgehen seiner Fähigkeiten. Das Zittern. Der schleichende Kontrollverlust. Und Ella, die täglich in seine Firma fuhr und er nie mehr.
Ella verließ die Küche, als er ihren eigenen Teller vom Tisch fegte. Sie wählte Jettes Nummer und hörte vom Flur aus Geschirrteil um Geschirrteil auf dem Küchenboden zerschellen.
„Bin in zwanzig Minuten da. Keine Sorge, ich kann Karate“, sagte Jette. Ella konnte hören, dass sie dabei lächelte.
Und dann kam sie. Ihr Erscheinen verbreitete Ruhe an diesem Ort der Verwüstung, alles war so still auf einmal. Wortlos zog sie einen Stuhl heran, neben Haralds Stuhl, sie setzte sich und ergriff seine vor Erschöpfung kraftlose Hand.
„Mein Mädchen.“ Zwei Worte, mehr nicht. So hatte er Valeria genannt, seine geliebte Frau, Ellas Mutter. Das Weinen kam, das kindliche Weinen eines langsam zerfallenden, verbitterten Mannes, der einmal so stark gewesen war, so viel erlebt, gearbeitet, gewusst und geschafft hatte.
„Verzeih mir.“
Jette und Ella sahen einander an. In ihren Blicken stand die gleiche Frage. Niemand würde sie ihnen beantworten können. Da war nur diese Ahnung.
Haralds Hand lag nicht in Jettes Hand. Sie lag in Valerias Hand.
Ella gab Jette ein Zeichen. „Ich gehe raus“, bedeutete es.
Sie verließ das Haus über die Terrassentür und sog die frische Luft ein, so tief sie nur konnte.
Durchatmen, ja. Auf der Bank sitzen, ja. Zur Ruhe kommen. Nein.
Sie ging zum Teich, ihrem Lieblingsplatz, dort wo die Seerosen waren, das Schilf und die Schmetterlinge.
Worum hatte er soeben um Verzeihung gebeten? Wegen des zerschlagenen Geschirrs? Des zerstörten Bildes? Oder …
Da waren sie wieder, die vielen quälenden Fragen, die sich Ella bereits so unzählige Male gestellt hatte.
Was war geschehen an diesem Vormittag vor fast zwei Jahren?
Spielte es eine Rolle, ob ihr Vater wegen seiner beginnenden Demenz vergessen hatte, worum Valeria ihn gebeten hatte? Veränderte es etwas, wenn sie deswegen von der Leiter gestürzt und mit dem Kopf auf dem massiven Arbeitstisch aufgeschlagen war, weil sie begonnen hatte, die obersten Fenster ihres Ateliers selbst zu putzen, statt sich erneut an Harald zu wenden?
Nein. Das würde es nicht.
Warum hatte sie selbst, Ella, ihrer Mutter nicht kurzerhand geholfen, statt zum Einkaufen in die Stadt zu fahren?
Hörte die Suche nach Antworten jemals auf?
Gingen die Schuldgefühle jemals davon?
Fand ihr Vater sein Lächeln wieder, eines Tages? Es würde ihr die Welt bedeuten.
Ellas Blick fiel auf einen länglichen, flachen Stein an der Uferzone. Ganz schwarz war er und so glänzend, dass sich das abendliche Sonnenlicht darin widerspiegelte.
Sie hob ihn auf, fuhr sanft mit den Fingerspitzen über die warme, glatte Oberfläche. Genoss das angenehme Gefühl in ihrer Hand. Ließ ihn in die Gesäßtasche ihrer Jeans gleiten.
Drehte sich um und ging zurück ins Haus.
Jette sollte das Durcheinander nicht alleine aufräumen müssen.

Am zweiten Morgen nach Haralds Wutausbruch war es, an Valerias Todestag, als Ella nach dem Gewächs sah, bevor sie zur Arbeit fahren würde. An gewöhnlichen Tagen tat sie das nie, schaute erst nach der Rückkehr aus dem Büro am frühen Nachmittag, aber etwas drängte sie heute dazu, zog sie einfach hin zum Beet, als müsste sie es tun. Es mag eine Ahnung gewesen sein oder der aus der Ferne kaum wahrnehmbare Duft.
Mit den ersten Sonnenstrahlen dieses klaren Morgens begann die Blüte, sich zu öffnen. Noch gab sie nicht alles preis. Längst nicht. Die obersten Spitzen der Blütenblätter gewährten einen Blick auf etwas so atemberaubend Schönes, das Ella ehrfürchtig und stumm dastehen ließ. Sie dabei zusehen ließ, was sich von Minute zu Minute mehr offenbarte.
In dem Wenigen, was da geschah, war so viel. Der Regenbogen und Valerias Malpalette, alle Farben dieser Welt drängten nach draußen, von warmem Vanilleweiß über feinzartkühles Gelb hin zu glühendem Sonnengold und saftigfrischem Orange, gepaart mit Teerosenrosé, samtenem Purpur, Sommerhimmelblau, meeresrauschendem Türkis und frechfröhlichem Limettengrün.
Glückswogen durchströmten Ella, frei und auserwählt fühlte sie sich, etwas geschah mit ihr in diesen Minuten, da waren kindliche Aufregung, heilsame Ruhe, Verzauberung und Liebe, Überschwang und Frieden, da war so viel in ihr, was sie verloren geglaubt hatte in der Vergänglichkeit der Zeit.

Ella wollte zu Hause bleiben an diesem Tag. Einfach dort stehen und schauen und fühlen und riechen und staunen und warten auf das, was noch geschah. Und dann war da diese eine Sekunde, in der sie es erkannte, sie erkannte.
Valerias Botschaft.
Es ging ihr gut.

„Jette, komm! Komm her!“
Atemlos rief Ella es von der Terrasse aus ins Haus, so schnell war sie über das Grundstück gelaufen.
„Ist etwas passiert?“ Jettes Gesichtsausdruck war besorgt, als sie nach draußen kam.
„Ja. Nein. Die Blüte. Hol Papa her. Er muss es sehen.“ Schnell griff Ella nach drei zusammengeklappten Gartenstühlen. „Bring ihn nach hinten, zum Beet. Egal wie. Du kannst doch Karate.“
Jette lachte. Ihr genügten Worte und Gesten.

Arm in Arm kamen sie, die junge, lebensfrohe Frau und der alte, müde Mann, gesellten sich zu Ella, nahmen Platz.
„Papa. Schau. Schau hin.“

Langsam, sehr langsam, sah er auf.
„Danke“, sagte er leise.
Und lächelte.

Copyright: Heidi Hensges 2021
Siegergeschichte des 1. Wegberger Literaturpreises

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